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Regionalversammlung Südhessen / Landesentwicklungsplan / SEM „Ostfeld-Kalkofen

Wiesbaden/Mainz, 8. Februar 2021

An Herrn Staatsminister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen
Tarek Al-Wazir

An Frau Regierungspräsidentin
Brigitte Lindscheid

An den Vorsitzenden der Regionalversammlung und die Mitglieder der Regionalversammlung über die Geschäftsstelle der Regionalversammlung

Das Bündnis Stadtklima Wiesbaden/Mainz fordert,
die Entscheidung über den Antrag der Landeshauptstadt Wiesbaden auf Zielabweichung vom Regionalplan im Bereich der Städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme Wiesbaden Ostfeld auf einen Termin deutlich NACH der Kommunalwahl zu vertagen.

Sehr geehrter Herr Staatsminister Al-Wazir,
sehr geehrte Frau Regierungspräsidentin Lindscheid,
sehr geehrter Herr Vorsitzender Kraft und sehr geehrte Mitglieder der Regionalversammlung,

am 5. März 2021 – nur wenige Tage vor der Kommunalwahl – soll das Zielabweichungsverfahren im Bereich der Städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme Wiesbaden Ostfeld bei der Regionalversammlung Südhessen beschlossen werden.

Und das, obwohl

  • die KLIMPRAX-Studie des Hessischen Landesamtes für Naturschutz Umwelt und Geologie (HLNUG) bestätigt hat, wie wichtig das Ostfeld als Kaltluftentstehungsgebiet und aufgrund der Kaltluftleitbahnen (vom Taunus bis nach Mainz) ist. Die Bebauung des Ostfelds würde also den bereits bestehenden Wärmeinseleffekt für 125.000 Menschen verschärfen.
  • das von der SEG Wiesbaden beauftragte Klima-Gutachten von GeoNET fachlich unzureichend ist, da es die Kaltluftleitbahnen vom Taunus bis zum Rheintal nicht berücksichtigt, und die Notwendigkeit der Berücksichtigung auch vom HLNUG gegenüber dem Umweltamt Wiesbaden bestätigt wurde.
    Im Landesplanungsportal wird darauf hingewiesen, dass die landesweite Klimaanalyse aus regionaler und überregionaler Perspektive erfolgte, und keine lokalen Klimaanalysen auf Ebene der Städte, Gemeinden und Ortsteilen bzw. bei Einzelvorhaben ersetzen kann. Die „städtischen Gutachten“ sollten allerdings von einer übergeordneten Stelle auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft werden.
  • wesentliche Kenntnisse bzw. Gutachten zum Grundwasser, Boden, Artenschutz, Fluglärm und nachhaltigem Verkehrskonzept fehlen. Und ohne diese Kenntnisse und vor allem in diesem kurzen Zeitraum keine fundierten Entscheidungen von der Regionalversammlung getroffen werden können.
  • schon 1999 die Stadtverordneten der LH Wiesbaden beim Regionalplanentwurf zum Ostfeld erhebliche Bedenken in Bezug auf das Klima, den Arten- und Bodenschutz, das Landschaftsbild etc. hatten und die Änderung von „Bereich Industrie, Gewerbe, Zuwachs“ in „Bereich für die Landwirtschaft“ beantragt hatten.
  • alle Fakten klar belegen, dass die Klimakrise aufgrund der Hitzesommer und Dürren, dem Grundwassermangel und dem Waldsterben bereits im Gange ist und sich das Problem mit der schwindenden Artenvielfalt verschärft hat.

Wir bitten darum, bei den Prüfungen und bei der Fassung von Beschlüssen auf besondere Sorgfalt Wert zu legen. Wir bezweifeln, dass diese Sorgfalt mit der aktuell geplanten Entscheidung über das Zielabweichungsverfahren zum Ostfeld schon am 5. März 2021 gewahrt werden kann. Die kurzfristige Terminierung nur wenige Tage vor der Kommunalwahl lässt vermuten, dass hier politisches Kalkül Vorrang vor einer sachlichen und fachlichen Bewertung des Verfahrens hat. Wenn dies so ist, wäre es ein drastischer Fall politischer Unkultur, der die demokratischen Prozesse stark in Zweifel zieht. Ein deutliches Zeichen, dass die Terminierung nicht politisch motoviert ist, wäre es, wenn Sie den Termin für die Entscheidung über das Zielabweichungsverfahren deutlich nach der Kommunalwahl ansetzen. Dies würde zudem – und dies ist mindestens so wichtig – ermöglichen, die vielen offenen Fragen in Bezug auf die SEM „Ostfeld-Kalkofen“ vor der Entscheidung über das Zielabweichungsverfahren zu klären.

Beispielsweise sind die offensichtlichen Diskrepanzen zwischen der Klimprax-Studie und dem GeoNET-Gutachten und die eklatanten, fachlichen Mängel von GeoNET für uns der Anlass großer Sorge. Auch die Tatsache, dass die Bebauung auf dem Ostfeld in der Einflugschneise eines vielgenutzten Militärflughafens liegt, aber weder zu den daraus resultierenden Gefahren noch zur Lärmbelastung der zukünftigen Bewohner Untersuchungen vorliegen, erschüttert uns. Denn einmal gebaute Wohnungen werden nicht wieder abgerissen.

Wir sind demzufolge besonders neugierig auf die fachplanerischen Begründungen, sollte das Zielabweichungsverfahren trotz dieser schwerwiegenden Tatsachen und trotz des viel zu kurzen Zeitfensters für eine Beurteilung beschlossen werden.

Erlauben Sie uns, an dieser Stelle noch einmal folgendes in Erinnerung zu rufen:

Mit der landesweiten Klimaanalyse und der Festlegung der unten stehenden Ziele (Z) in der 3. Änderung (2018) des Landesentwicklungsplans (LEP) hat das Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen – als oberste Landesentwicklungsbehörde – eine wichtige und klare Vorgabe zu den überlebensnotwendigen Maßnahmen zur Klimaanpassung und zur dauerhaften Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes gegeben.

Seine Wirkung entfaltet der LEP über sogenannte ,Ziele‘ und ,Grundsätze‘. Während Ziele des Landesentwicklungsplans bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen von allen öffentlichen Stellen zu beachten sind, bedürfen Grundsätze lediglich der Berücksichtigung. Dies bedeutet, dass Grundsätze im Gegensatz zu Zielen im Rahmen einer planerischen Abwägung überwunden werden können.

„4.2.2-3 (Z) Mit Böden ist sparsam und schonend umzugehen. Der Wiederverwendung von bereits für Siedlungs-, Gewerbe- und Infrastrukturanlagen genutzten Flächen ist der Vorrang vor der Inanspruchnahme bisher baulich nicht beanspruchter Böden einzuräumen.“

„4.2.3-3 (Z) In den Regionalplänen sind die regional bedeutsamen Luftleitbahnen sowie die für das Siedlungsklima bedeutsamen Flächen des Freiraums (Kalt-/ Frischluft-entstehungsgebiete), die im räumlichen Zusammenhang mit lufthygienisch und/oder bioklimatisch belasteten Siedlungsräumen stehen und wichtige Aufgaben für den Klima- und Immissionsschutz wahrnehmen, als ‚Vorrang- gebiete für besondere Klimafunktionen‘ bzw. ‚Vorbehaltsgebiete für besondere Klimafunktionen‘ festzulegen.“

„4.2.3-4 (Z) In ‚Vorranggebieten für besondere Klimafunktionen‘ hat der Schutz der Kaltluftentstehungsgebiete und Luftleitbahnen Vorrang vor entgegenstehenden Nutzungen. Maßnahmen, welche die Kaltluftentstehung oder Durchlüftung verschlechtern können, sind nicht zulässig.“

Laut Landesplanungsportal müssen sich alle räumlichen Planungen und Fachplanungen am LEP orientieren und der LEP macht darüber hinaus verbindliche Vorgaben für die Regionalplanung. Die hier aufgeführten Ziele sind also von allen öffentlichen Stellen bei raumbedeutsamen Planungen zu beachten. Raumbedeutsame Maßnahmen sind laut Landesplanungsportal insbesondere die überörtlich bedeutsamen Wohn- und Gewerbegebiete, die großen Verkehrs- und Versorgungsinfrastruktureinrichtungen, sowie die Planungen des technischen Umweltschutzes und des Natur- und Landschaftsschutzes.

Das Bündnis Stadtklima Wiesbaden/Mainz begrüßt diese Vorgaben. Wir sind allerdings sehr besorgt, ob der Landesentwicklungsplan und der Regionalplan nicht doch nur zahnlose Tiger sind.

Auf der Internetseite des RP-Darmstadt ist eine lange Liste von Beschlussvorlagen über Zielabweichungsverfahren und Planänderungsverfahren der Kommunen zu finden. In den meisten Fällen geht es hier um weitere Flächenversiegelungen – auch bei für das Siedlungsklima bedeutsamen Flächen. Werden demzufolge noch schnell vollendete Tatsachen geschaffen, bevor die Zielvorgaben des LEP im Regionalplan Berücksichtigung finden?

Insbesondere die Stadt Wiesbaden sticht mit ihrem Antrag auf Zielabweichung vom Regionalplan Südhessen / Regionalen Flächennutzungsplanweiterhin heraus.

Herr Staatsminister Al-Wazir, vor einigen Wochen, als es um ein sehr wichtiges Klimaschutzthema – der von vielen Umweltorganisationen geforderten Verkehrswende – ging, mussten Sie konkret beim Bau der A49 auf Ihre eigene Machtlosigkeit und auf die Verantwortung des Bundesverkehrsministers verweisen.

Eine – global gesehen – verschwindend geringe Fläche Wald wurde für die A49 gerodet. In der Sibirischen Taiga wurde in den letzten Jahren Wald auf einer Fläche von ganz Hessen (21.115 km2), selbstverständlich zum großen Teil illegal, gerodet. Zudem brannte die Taiga 2019 wochenlang. Allein im Juli 2019 wurden in Brasilien 2.254 km2 gerodet. Tendenz seitdem steigend. Australien brennt schon wieder. China baut weiterhin fleißig Kohlekraftwerke. Die Liste kann unerschöpflich weitergeführt werden. Der Klimawandel ist nicht mehr aufzuhalten.

Umso lebensnotwendiger ist die sofortige und konsequente Klimaanpassung – vor allem in den Städten.

An dieser Stelle Herr Staatsminister Al-Wazir tragen Sie die volle Verantwortung für eine klimagerechte/klimaangepasste Entwicklung in Hessen. Als Minister der obersten Landesplanungsbehörde haben sie aufgrund des Hessischen Landesplanungsgesetzes das letzte Wort.

Machen Sie davon Gebrauch und geben Sie einer sachverständigen und sorgfältigen Entscheidung im Zielabweichungsverfahren für Ostfeld-Kalkofen eine Chance. Diese Chance existiert nur, wenn nicht politischer Druck, sondern gut recherchierte Fakten Grundlage der Entscheidung sind. Dazu muss der Termin der Entscheidung unbedingt auf einen Zeitpunkt deutlich nach der Kommunalwahl verschoben werden.

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Bündnis Stadtklima