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„Starke Zweifel an städtischer Statistik“

„Starke Zweifel an städtischer Statistik“

Presseerklärung der Aktionsgemeinschaft “Hände weg von Os/Ka” zur Wiesbadener Wohnungspolitik und der Stadtanalyse Nr. 122, vom 18. Januar 2022

Hände weg von Os/Ka: Fällt die Fläche für 5.500 Wohnungen in Wiesbaden unter den Tisch?

Vor Kurzem gab das Wiesbadener Amt für Statistik und Stadtforschung den Bericht „Wohnen in Wiesbaden: Region und Umland (Stadtanalyse Nr. 122)“ heraus. [1] Er benennt eine Reihe wohnungspolitischer Kenngrößen im Vergleich mit Städten im Rhein-Main-Gebiet sowie Landkreisen im Umland.

Näher betrachtet, wirft der Bericht schwerwiegende statistische und politisch relevante Fragen auf.

„Hat sich Wiesbaden um Wohnraum für 5.500 Wohnungen verrechnet?“

Wirkliche Sprengkraft liegt in der Berechnung der durchschnittlichen Wohnfläche je Wohnung, im Wiesbadener Bericht vom Dezember 2021 für die Landeshauptstadt mit 80,6 m2 angegeben. [2] Der Blick in das statistische Jahrbuch der Stadt, [3] zeigt eine andere, höhere Quadratmeterzahl von 83,8 m2.

Die deutliche Abweichung zwischen den kommunalen Daten und denen des Statistischen Landesamts (HSL) wird in der jüngsten Veröffentlichung des Wiesbadener Amts für Statistik weder erwähnt noch diskutiert. Warum eigentlich?

„Ob nun drei Quadratmeter mehr oder weniger – was nach einem kleinen Unterschied klingt, hat bei mehr als 142.000 Wohnungen [4] in Wiesbaden, große Auswirkungen“ kritisiert Philipp Pfefferkorn von der Aktionsgemeinschaft Hände weg von Os/Ka.

Nimmt man die 142.000 Wiesbadener Wohnungen, multipliziert sie mit 3,2 m2 – das ist die Differenz zwischen der städtischen Veröffentlichung und dem Statistischen Landesamt – ergibt das eine Fläche von 450.000 m2. Das ist Wohnraum für rund 5.500 Wohnungen. Eine ausführliche Rechnung ist im Anhang enthalten.

„Wohnfläche für rund 5.500 Wohnungen oder etwa 11.000 Menschen haben oder nicht haben, das ist hier die Frage. Für Wiesbaden, in Anbetracht der Pläne rund 5.000 Wohnungen auf dem Ostfeld zu bauen, höchst relevant!“, begründet Pfefferkorn seine Kritik an der städtischen Veröffentlichung. „In dieser Sache fordere ich Aufklärung von der Stadt – die widersprüchlichen Zahlen bedürfen dringend einer Erklärung.“

Wiesbadener Wohnungen werden größer und größer…

Beachtenswert ist, dass im Rhein-Main-Gebiet Wiesbaden die höchste durchschnittliche Wohnungsgröße aufweist. Das sieht auch das städtische Amt für Statistik so.

Was das Wiesbadener Amt in seinem jüngsten Bericht nicht erwähnt: Im letzten Jahrzehnt ist die Wohnungsgröße stärker gewachsen als in Mainz, Darmstadt, Frankfurt oder Offenbach. Dies geht aus Daten des Statistischen Landesamts (HSL) hervor.

Wohnfläche je Wohnung in m2
WiesbadenDarmstadtMainzOffenbachFFM
200978,177,177,273,069,7
201983,980,878,775,673,2
2019 – 2009+ 5,7+ 3,8+ 1,2+ 2,5+ 3,5

Tabelle 1: Wohnfläche je Wohnung, kreisfreie Städte in Rhein-Main, 2009 und 2019. Datengrundlage: Hessisches Statistisches Landesamt (HSL), Stadt Mainz/Statistisches Landesamt RLP. Eigene Berechnung, ausführlich dargelegt im beiliegenden Anhang.
Anmerkung: Die Werte für 2019 weichen erheblich ab von denen des Berichts „Wohnen in Wiesbaden: Region und Umland (Stadtanalysen Nr. 122)“ auf S. 18, Bild 14.

Jede Wohnung in Wiesbaden war 2019 im Schnitt rund 6 Quadratmeter größer als noch 2009. Ein Trend der sich auch in anderen Städten in Rhein-Main beobachten lässt – jedoch durchaus schwächer.

Diese Beobachtung deckt sich mit der Wohnfläche neu gebauter Wohnungen. Wie aus dem Statistischen Jahrbuch der Stadt hervorgeht, [5] hatten Neubau-Wohnungen in den letzten fünf Jahren im Schnitt 94,8 m2 Wohnfläche – rund 11 m2 zusätzlich.

Was folgt daraus?

Wohnungen in Wiesbaden werden nicht nur größer, sondern die Menschen bewohnen auch immer mehr Fläche. Mehr Platz zum Wohnen, das mögen sich diejenigen leisten, die es können – in der Summe wird daraus jedoch ein ernst zu nehmendes Problem: Erhöhter Flächenverbrauch, mit allen negativen Auswirkungen.

Auf der anderen Seite haben größere Wohnungen auch eine gesellschaftliche Dimension: Größere Wohnungen sind teurer als kleine. Egal ob zum Kauf oder zur Miete. In der Folge dreht sich die Preisspirale am Wohnungsmarkt weiter in die Höhe. „Ob das den Entscheidern im Rathaus bewusst ist?“

„Warum soll es am Ostfeld anders laufen als bisher?“

Als GmbH arbeitet die stadteigene Stadtentwicklungsgesellschaft Wiesbaden (SEG) gewinnorientiert. Am Ostfeld rechnet sie mit Einnahmen von 1.000 Euro je Quadratmeter verkauftem Bauland. [6] Und größere Neubau-Wohnungen erhöhen die Ertragsprognosen.

„Die Schlagworte ‚bauen bauen bauen‘ und ‚bezahlbarer Wohnraum‘, mit denen in der Vergangenheit von verschiedenster Seite für das Ostfeld getrommelt wurden, verpuffen angesichts dessen als hohle Phrasen. Am Ostfeld wird kein bezahlbarer Wohnraum entstehen. Das tief im gesellschaftlichen Diskurs verankerte Mantra vom Wachstum, vom ‚höher schneller weiter‘, das Narrativ der Konkurrenz zwischen Stadt und Land und die Angst ins Hintertreffen zu geraten, müssen kritisch hinterfragt werden,“ so Pfefferkorn.

„Konkret müssen wir das Thema Wohnen in Wiesbaden sachorientiert und engagiert debattieren. Dafür braucht es eine kritische Analyse der vorhandenen Daten. Es braucht Transparenz, Ehrlichkeit, Redlichkeit und evidendenzbasierte Entscheidungen. Und es braucht einen politischen Gestaltungswillen, der nicht bloß Schlagworte der Immobilien-Branche nachplappert.

Es braucht ein Regulativ der Politik, das sich nicht hinter dem Bild vom heilsbringenden Großprojekt Ostfeld versteckt, um gleichzeitig vieles so belassen zu können, wie es ist. Grund und Boden lassen sich nicht vermehren. Wachstum hat Grenzen. Das anzuerkennen, ist Aufgabe der Politik. Die Dinge weiter laufen zu lassen, ist keine Option. Die Zahlen zeigen wo die Reise hingeht, wenn in Wiesbaden kein Umdenken stattfindet. Mit einem ‚Weiter so‘ und einer Trabantenstadt Ostfeld kann das jedenfalls nicht gelingen.“

Wiesbaden, 18.01.2022

Philipp Pfefferkorn,
für die Aktionsgemeinschaft „Hände weg von Os/Ka“

Anhang:
Rechnung zur Fläche für 5.500 Wohnungen, weitere Übersichten sowie Zeitreihen über die Wohnungen und Wohnfläche für Wiesbaden und weitere Städte in Rhein-Main.


[1] Stadtanalysen Nr. 122: Wohnen in Wiesbaden IV: Region und Umland, Amt für Statistik und Stadtforschung, Wiesbaden, 12/2021. Zu finden unter: https://www.wiesbaden.de/medien-zentral/dok/leben/stadtportrait/2021_12_21-Bericht-Wohnen-IV-Region-und-Umland_FINAL.pdf

[2] Ebd. Bild 14: „Durchschnittliche Wohnfläche je Wohnung im regionalen Vergleich, 2019“, S. 18

[3] Statistisches Jahrbuch 2020 Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung, Wiesbaden, Kapitel 3, Bauen und Wohnen, Tabelle 1 „Langzeitübersicht Bauen und Wohnen seit 2000“, S. 53, Datengrundlage: Hessisches Statistisches Landesamt (HSL).
Zu finden unter: https://www.wiesbaden.de/medien-zentral/dok/leben/stadtportrait/03_Bauen_und_Wohnen_Auszug_Statistisches_Jahrbuch.pdf

[4] Statistische Berichte / F / I / 1 – j/19: Bestand an Wohngebäuden und Wohnungen in Hessen, Hessisches Statistisches Landesamt, Wiesbaden, 07/2021, Tabelle 4 „Bestand an Wohnungen in Wohn- und Nichtwohngebäuden“, S. 9. Zu finden unter: https://www.statistischebibliothek.de/mir/servlets/MCRFileNodeServlet/HEHeft_derivate_00009558/FI1_j19.pdf

[5] Statistisches Jahrbuch 2020 Wiesbaden, Tabelle 4 „Baufertigstellungen – Zeitreihe“, S. 57. Datengrundlage: HSL. Zu finden unter: https://www.wiesbaden.de/medien-zentral/dok/leben/stadtportrait/03_Bauen_und_Wohnen_Auszug_Statistisches_Jahrbuch.pdf

[6] Aktualisierte Kosten und Finanzierungsübersicht SEM Ostfeld, 2021, Teil der Sitzungsvorlage 21-V-61-0042, zu finden unter: https://piwi.wiesbaden.de/sitzungsvorlage/detail/2829667