Close

Stadtpolitik muss liefern – Keine Stadtentwicklung ohne Klimaanpassung

Klimprax will Kommunen ganz klar bei der Anpassung an den Klimawandel unterstützen. Für Mainz und Wiesbaden als Modellkommunen liegen alle Ergebnisse schon auf dem Tisch. Nur nutzen müssen sie die Städte selbst. Bildquelle: Handlungsleitfaden zur kommunalen Klimaanpassung in Hessen

Auf Klimaveränderungen mit einer angepassten Stadtplanung reagieren, statt Erkenntnisse des Deutschen Wetterdienstes und des Hessischen Landesamtes für Naturschutz, Umwelt und Geologie (HLNUG) kleinzureden, das fordert das Bündnis Stadtklima von der Stadt Wiesbaden. Doch die scheint andere Prioritäten zu setzen und blendet das Thema Klimaanpassung bislang weitestgehend aus.

„Das Thema ist zu wichtig, als dass man es vom Tisch wischen könnte“, wird Sonja Singer-Posern, HLNUG-Projektleiterin, zum Klimawandel in der Region Wiesbaden/Mainz in der Lokalpresse zitiert (WK, 6.10.2020; AZ, 9.10.2020). „Wir haben alles veröffentlicht, was wir an Daten haben und freuen uns, wenn es auch genutzt wird.“

SEG und Hinninger stellen Klimprax in Frage

Die Stadt Wiesbaden dürfte zu dieser Freude bisher wenig beitragen. Denn sie nutzt die Daten der Klimprax-Studie schlichtweg nicht im möglichen Ausmaß. Ausgerechnet die Grünen-Fraktionsvorsitzende Christiane Hinninger stellt die Aussagekraft der Studie sogar in Frage, indem sie in der Umweltausschusssitzung zum Thema Ostfeld-Bebauung am 8. September 2020 das Credo der Stadtenwicklungsgesellschaft (SEG) wiederholt: „KLIMPRAX ist zu grobkörnig.“

In der Tat sind einige Eingangsdaten zur Modellierung bei Klimprax gröber als beim von der SEG beauftragten Gutachten der Firma GEO NET zum Ostfeld. Z.B. das Geländemodell: Bei KLIMPRAX gibt es alle 50 m eine Höhenangabe (DGM50) – bei GEO NET alle 5 m (DGM5). Dafür sind die Klimprax-Daten aber weiträumiger und geben wichtige Umgebungseinflüsse wieder, die im GEO NET-Gutachten keine Rolle spielen: Wie zum Beispiel entscheidende Kaltluftströme insbesondere aus den Taunustälern.

Zum Vergleich: Welche Aussagekraft hätte ein Fluglärm-Gutachten, das ein Wohngebiet in Flörsheim untersucht, dabei aber den nahegelegenen Frankfurter Flughafen ausblendet? Oder ein Hochwassergutachten für Biebrich, das den Rhein nicht in sein Untersuchungsraster miteinbezieht?

DWD belegt Auswirkungen auf Mainz in Studienergebnissen

Für den Deutschen Wetterdienst (DWD) sind diese weiträumigen, aber von SEG und Hinninger als „grobkörnig“ bemängelten Daten der Klimprax-Studie jedenfalls aufschlussreich genug, um Aussagen über Kaltluftströme vom Ostfeld treffen zu können. Und auch die Ergebnisdarstellung der Kaltluftentstehungsgebiete und Kaltluftströme mit 100 m Rastern scheinen ihm auszureichen. Die Bundesoberbehörde ist verantwortlich für die Modellbasierte Analyse der Klimprax-Studie und kommt in der Zusammenfassung ihres Endberichts zu folgendem Ergebnis:

„Die auf den Freiflächen zwischen Erbenheim, Igstadt und Bierstadt gebildete Kaltluft strömt nach Mainz-Kastel und teilweise sogar über den Rhein hinweg bis zur Mainzer Innenstadt und nach Weisenau.“

Klimprax-Studie: Modellbasierte Analyse des Stadtklimas als Grundlage für die Klimaanpassung am Beispiel von Wiesbaden und Mainz, Seite 5

Das hört sich ganz anders an als die saloppe Aussage des SEG-Projektleiters Joachim Mengden bei der Ortsbeiratssitzung Amöneburg: „Da fließt nichts nach Mainz.“

Der DWD erklärt auch gleich, warum es gerade auf diese Kaltluft, die nach seinen Erhebungen sehr wohl nach Mainz fließt, ankommt:
„Wichtig ist aber auch zu wissen, wie mit Hilfe stadtplanerischer Mittel eine weitere Verschlechterung der Wärmebelastungssituation möglichst vermieden oder reduziert wird. Da die städtische Wärmeinsel in der Nacht am stärksten ausgeprägt ist und eine fehlende nächtliche Entlastung (Abkühlung) sich besonders negativ auf das Wohlbefinden und die Gesundheit auswirkt, spielen hier die nächtliche Bildung von Kaltluft und die damit verbundenen Kaltluftabflüsse eine entscheidende Rolle. Es wurde deshalb anhand der MUKLIMO_3-Ergebnisse flächendeckend das Potential der bisher unbebauten Flächen zur Bildung von Kaltluft analysiert. Aus den Simulationsergebnissen wurden Trajektorien der Kaltluft bestimmt. Damit wird sichtbar gemacht, wohin die Luft aus einem vorgegebenen Gebiet (z.B. ein Kaltluftentstehungsgebiet) fließt oder woher die Luft nachts in die besonders belasteten Gebiete strömt. Zusätzlich wurden Volumenstromdichten sowie die mittlere Temperatur von Kaltluftabflüssen berechnet und dargestellt. Diese Größen sind wichtig, um beurteilen zu können, wie relevant ein Kaltluftabfluss ist.“ (Klimprax-Studie, Seite 6)

DWD: Klimprax für klimatische Belange in der stadtplanerischen Praxis „übersetzen“

Der Behauptung, Klimprax könne zu Bebauungsstrukturen keine Aussagen treffen und nicht als Grundlage für die stadtplanerische Praxis dienen, widerspricht der DWD-Bericht auf Seite 7:

„Die Klimaanalysen für das Untersuchungsgebiet Wiesbaden/Mainz basieren auf Computersimulationen, die vom DWD mit dem Klimamodell MUKLIMO_3 (3-dimensionales mikroskaliges urbanes Klimamodell, SIEVERS, 2012; SIEVERS 2016) durchgeführt wurden. Das speziell für stadtklimatologische Fragestellungen entwickelte Modell wird bereits seit vielen Jahren zur Untersuchung von lokalklimatisch bedeutsamen Wetterlagen erfolgreich eingesetzt. Bei den Modellrechnungen wird besonderer Wert auf die detaillierte Modellierung der unterschiedlichen Bebauungsstrukturen innerhalb der Stadtgebiete gelegt. Die hier erzielten Ergebnisse sollen in einem nächsten Schritt in Größen oder Parameter ‚übersetzt‘ werden, die eine Berücksichtigung der klimatischen Belange in der stadtplanerischen Praxis erleichtern sollen.“

Die Stadt Wiesbaden müsste diese klaren Ergebnisse also nur noch in ihre Stadtplanung „übersetzen“.

Das HLNUG selbst hat im aus der Klimprax-Studie resultierenden „Handlungsleitfaden zur kommunalen Klimaanpassung in Hessen“ übergeordnete Zielsetzungen definiert:

  • Belastungsgebiete: Vermeidung jeglicher Verschlechterung, Verbesserung der Situation, Detailgutachten bei Nutzungsänderung
  • Ausgleichsgebiete: Sicherung der klimatischen Ausgleichsfunktionen (insb. Kaltluftproduktion), Sicherung der Austauschwege, Optimierung der Ausgleichsfunktionen

Stadt Wiesbaden umschifft Klimaanpassungs-Themen

Diese Zielsetzungen könnte die Stadt Wiesbaden zum Beispiel umsetzen, indem sie den erst 2019 selbst verordneten Klimanotstand endlich mit Leben füllt und ihm konkrete Handlungsanweisungen für die Stadtplanung hinzufügt. Oder indem der Klimaschutzbeirat das Thema Klimaanpassung nicht ausblenden würde, weil seine vorrangige Aufgabe ja der Klimaschutz ist – nicht die Anpassung. Auch der unter dem Vorsitz des Oberbürgermeisters eingerichtete Lenkungskreis zum Klimaschutzmanagement (für das im Haushalt 2020/2021 satte 5 Millionen Euro eingestellt wurden, siehe Pressemeldung der Stadt Wiesbaden vom 14.1.2020) könnte die Klimprax-Studie heranziehen und der darin geforderten Klimaanpassung zumindest einen Teil seiner Aufmerksamkeit widmen.

Priorität der Stadt: SEG soll Geld verdienen

Warum passiert das alles nicht? Offenbar fürchtet die Stadtpolitik das Aus für eine rein auf Wachstum ausgelegte Stadtplanung, die der SEG im Jahr 2018 einen Sprung von unter 20 auf über 70 Mio. Euro an Umsatzerlösen beschert hat. Und erklärtes Ziel der Wiesbadener Stadtpolitik ist ja gerade: „Die SEG soll Geld verdienen.“ So zum Beispiel mit der massiven Bürobebauung am Klima-Hotspot Schiersteiner Hafen. Zur Erinnerung: Hier wird nicht eine einzige Sozialwohnung geschaffen, aber der SEG viel Geld in die Kasse gespült. Ob das eine Prioritätensetzung mit Weitblick ist, bezweifelt das Bündnis Stadtklima.